Jakob Lorber: 'Kindheit und Jugend Jesu'


258. Kapitel: Wiederbewohnung des von Salome übernommenen früheren Miethauses (20.07.1844)

01] Wo aber nahm Joseph die Wohnung in Nazareth? Wo stieg er ab, und wo ging er ein?

02] Es ist in den ersten Kapiteln, wo von der Abreise Josephs nach Ägypten von Bethlehem weg die Rede war, gesagt worden, wie Joseph die reiche Salome in Betlehem ersucht hatte, daß sie für ihn seinen Meierhof bei Nazareth pachten möchte.

03] Hat das Salome getan? - Ja, sie tat es; nicht nur was Joseph gewünscht, sondern sie hat den Meierhof förmlich an sich gekauft, und zwar in der doppelten Absicht:

04] Diesen Hof, falls Joseph oder ein Kind von ihm je wieder zurückkäme, ihnen vollkommen zu eigen einzuhändigen;

05] gegenfalls aber diesen für sie so hochgeheiligten Hof für sich zum Andenken an die erhabenste Familie zu behalten.

06] Sie hielt diesen Hof für so ein Heiligtum, daß sie sich selbst nicht getraute, darinnen zu wohnen; noch weniger nahm sie eine Zinspartei (Mietsleute) hinein.

07] Auf daß sie aber dennoch in der Nähe dieser Besitzung leben konnte, kaufte sie einen nachbarlichen Acker hinzu und erbaute da ein recht nettes Häuschen und wohnte im selben mit ihrer Dienerschaft und wurde allda auch öfter von Kornelius besucht.

08] Und es traf sich gerade, daß Kornelius an diesem Tage, auf dem Rückweg von einem Amtsgeschäfte, bei der Salome einsprach, da Joseph wieder nach Nazareth zurückkam.

09] Es war ein herrlicher Abend, der Mond war voll, und kein Wölkchen trübte irgendeinen Stern am Himmel.

10] Dieser schöne Abend zog Salon mit dem Kornelius auf den Söller ihres netten Häuschens, das da ziemlich nahe an der Hauptstraße lag und den Hof Josephs gerade gegen Morgen vor sich in einer Entfernung von etwa siebzig Klaftern hatte.

11] Beide blickten oft nach der einstmaligen Behausung der erhabene Familie, und Kornelius sprach öfter zu Salome:

12] »Ich sehe die Erscheinung in Bethlehem noch stets lebendig vor mir, wie in einem schönsten, erhabensten Traume, und dieser Hof erinnert mich fortwährend daran.

13] Es war aber auch die Erscheinung in Bethlehem von einer solchen wunderbarsten Erhabenheit, daß sie mir stets unerklärlicher wird, je mehr ich daran denke.«

14] Und Salome sprach dagegen: »Ja, Freund Kornelius! Auch ich kann es nicht fassen, wie ich bei der Größe jenes Ereignisses noch am Leben habe verbleiben können.

15] Aber das ist zwischen mir und dir noch der Unterschied, daß ich nun, wie du weißt, mir nicht helfen kann, und muß das Kind in meinem Herzen allezeit anbeten,

16] während du die ganze Sache mehr als eine allererhabenste Geschichte betrachtest.

17] Ich habe mir daher auch schon öfter so im Geiste vorgestellt: wenn diese Familie je wieder hierherkäme, da könnte ich vor Seligkeit nicht leben.

18] Wenn sie drüben wohnete im Hofe - o Gott, was wäre doch das für ein Gefühl für mich!

19] Wahrlich, alle Himmel der Himmel wären dann auf diesem Söller vereint beisammen!«

20] Und Kornelius sprach: »Ja, du hast recht, das wäre auch für mich das Erhabenste.

21] Was täten wir aber nun, wenn ich setze den Fall - diese erhabenste Götterfamilie daherzöge, und wir erkennten sie schon von der Ferne?«

22] Und Salome sprach: »O Freund! Rede nicht davon, das würde mich töten vor Wonne!« -

23] Als die beiden in dieser Weise sich Gott wohlgefällig auf dem Söller unterhielten, und es also auch schon so ziemlich spät geworden war,

24] da bemerkte Kornelius in einer Ferne von etwa zweihundert Klaftern einen Zug, wie eine kleine Karawane, und sprach zu Salome:

25] »Da sieh einmal hin, noch spät in der Nacht eine Wanderung! Sind es wohl Griechen oder Juden?

26] Salome, was tätest denn du nun, wenn das eben die erhabenste Familie wäre?«

27] Und Salome erschrak förmlich und sprach: »Aber ich bitte dich, rede nicht immer davon und erwecke nicht stets von neuem in mir neue Wünsche, die nicht erfüllt werden können!

28] Was würdest denn du in einer solchen Seligkeit aller Seligkeiten tun?«

29] Und Kornelius sprach: »Wahrlich, da ginge es auch mir schlecht! Doch siehe, die Karawane macht halt, und ich sehe einen Menschen von ihr gerade auf uns zueilen! Komm, laß uns sehen, wer er ist!«

30] Und sie gingen dem Menschen entgegen. Der Mensch aber war ein Sohn Josephs und ging mit einem Kruge, um Wasser zu holen bei dem Hause.

31] Die beiden aber erkannten ihn nicht; denn also wollte es der Herr um des Heiles der beiden willen.



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