Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 9


Kapitelinhalt 175. Kapitel: Der Arzt kann sich das Wesen Raphaels nicht erklären.

01] Hierauf trat der Arzt ganz nahe zu Raphael und befühlte dessen Hände. Als er damit bald fertig war, da sagte er: »Ja, du hochherrlichster und sicher seligster Freund, dein Aussehen ist wahrlich ganz entschieden geistiger Art; denn die unbeschreibbare Zartheit und Weiße der Haut deines Leibes und das Ätherartige deines Faltengewandes sagen es laut, daß derlei noch nie bei einem Menschen ist erlebt und gesehen worden. Aber das Feste und Gediegene deiner von mir nun befühlten Arme hat eben nichts Geistartiges an sich und zeigt, daß du dich, abgesehen von deiner Geistesmacht und -kraft, auch zufolge deiner natürlichen Muskelstärke und Gediegenheit mit so manchem Ringer messen könntest, und dennoch bist du ein völlig reinster Geist! Wie soll man das verstehen?«

02] Sagte Raphael: »Habe nur noch eine kleine Geduld, und du wirst das bald klarer einsehen und begreifen! Befühle mich aber nun noch einmal, und überzeuge dich, ob ich nun auch noch etwas Leibartiges an mir habe, und urteile dann mit der Helle deiner Vernunft und mit der Stärke deines Verstandes!«

03] Hierauf befühlte der Arzt abermals Raphaels Hände. Als er sie aber mit seinen Fingern ganz mannskräftig anfaßte, da fühlte er nichts denn nur die Luft; denn seine Finger kamen ungehindert auf die eigene Handfläche und gewahrten nichts Körperliches zwischen ihnen und der Handfläche, und dennoch sah der Arzt den Raphael ebenso vor sich wie zuvor, aber freilich mehr mit den Augen der Seele denn mit denen des Leibes. Als er nun auch diese Erfahrung gemacht hatte, da ward er verlegen und wußte nicht, was er darauf sagen sollte.

04] Nach einer kleinen Weile tieferen Nachdenkens erst sagte er nicht so sehr zu Raphael, sondern mehr wie zu sich selbst: »Das sieht ja aus wie Sein und Nichtsein! Einmal ein ganz gediegener Leib und nun zwar noch die ganz gleiche Gestalt, aber ohne eine nur im geringsten irgend fühlbare Wesenheit! Wie soll die menschliche Vernunft das fassen, und wie selbst der schärfste Menschenverstand das beurteilen? Da bleiben mir Vernunft und Verstand wie angemauert stehen! O du hochherrlicher und seligster Freund, das mußt du mir erklären, sonst wird es bei uns Griechen mit dem klareren und näheren Begreifen der Wesenhaftigkeit des Reiches Gottes eine noch größere Not haben denn zuvor.

05] Du bist da, denn ich sehe dich und höre deine helle Stimme, und dennoch bist du für das Gefühl meiner Hände ganz und gar nicht da! So ich dich nun auch mit den Augen meiner Seele mehr als mit denen des Leibes sehe, so habe ich dich aber nun zum zweiten Male doch mit meinen leiblichen Händen befühlt also wie beim ersten Male, wo ich deinen Leib gar wohl wahrnahm. Wie ist das? Oder habe ich dich etwa auch, wie etwa in einem Traume, nur mit den Händen meiner Seele befühlt, was für das Körperhafte etwa auch ebenso nichtig ist wie dem Körperhaften das Seelische oder Geistige? Wenn aber also, da wird es der menschlichen Vernunft schwer, sowohl in der materiellen Körperwelt als auch in der der Geister etwas Wesenhaftes herauszufinden; denn die erste ist so gut wie nichts für die zweite und die zweite dasselbe für die erste, und doch stehen sie sich als etwas Daseiendes für den Gesichts- und Gehörsinn gegenüber!

06] Wie ist das, wer kann das verstehen? Du bist ein Etwas und dabei aber doch auch gegenüber meinem Tastsinn ein sozusagen reines Nichts; und ebendasselbe muß ich auch dir gegenüber sein, und so sind wir beide ersichtlich und vernehmbar ein Etwas und dem eigentlichen Lebensgefühle nach dennoch ein vollkommenes Nichts! Was ist das ein Sein ohne Sein, und ebenso ein Nichtsein ohne Nichtsein?! Freund, das faßt keines Menschen Vernunft, und sein Verstand wird dabei zu einer ehernen Säule, an der die losen Zeitenstürme so lange lecken, bis sie am Ende trotz ihrer Härte dennoch völlig zunichte wird!

07] Wer und was sind die Stürme? Keines Menschen Auge hat je ihr eigentliches Wesen geschaut; nur der Tastsinn fühlt ihren flüchtigen Gang. Die Säule aber ist mächtig, ist da für alle Sinne des Menschen. Wie können am Ende die nichtigen Stürme mit dem Laufe der Zeiten ihre Vernichtung bewirken, warum nicht die für alle Lebenssinne eines Menschen daseiende Säule die Vernichtung der Stürme? Was ist des Menschen Verstand, der die Säulen erfand und sie allen Stürmen zum Trotz aufstellte? Seine Werke überdauern ihn, und er als ihr Schöpfer ist tot und kann den nichtigen Stürmen nimmerdar gebieten, seine festen Werke zu schonen.

08] O du mein himmlischer Freund, mit dieser nun an dir gemachten Erfahrung ist uns Menschen zum Begreifen der Wesenhaftigkeit des Reiches Gottes wahrlich schlecht gedient, wenn du selbst uns diese Sache nicht näher und bestimmter aufhellst! Da könnte ich denken bis ans Ende aller Zeiten - so das möglich wäre - und stünde dabei dennoch gleichfort am selben Flecke, wo ich nun stehe. Bist du ein Etwas, oder bist du ein Nichts, oder bin ich dasselbe trotz meines nunmaligen Daseinsgefühles?«



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