Jakob Lorber: 'Die geistige Sonne' (Band 2)


Kapitelinhalt 97. Kapitel: Der innere, eigenliche Sinn des 10. Gebotes.

(Am 28. Oktober 1843, von 3 3/4 - 6 Uhr Abends.)

Originaltext 1. Auflage 1870 durch Project True-blue Jakob Lorber

Text nach 6. Auflage 1976 Lorber-Verlag

01] Das Gesetz lautet sonach, wie wir es bereits nur schon zu überaus stark auswendig wissen: „Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib," - oder: Du sollst kein Verlangen haben nach deines Nächsten Weib; - was eines und dasselbe ist. - Wer ist denn das Weib, und wer ist der Nächste?

02] Das Weib ist eines jeden Menschen Liebe, und der Nächste ist jeder Mensch, mit dem ich irgend in Berührung komme, oder der irgend, wo es sein kann, möglich und nothwendig ist, meiner Hilfe bedarf. - Wenn wir das wissen, so wissen wir im Grunde schon Alles.

03 Was besagt demnach das Gebot? - Nichts Anderes, als: Ein jeder Mann soll nicht eigenliebig die Liebe seines Nächsten auffordernd zu seinem Besten verlangen; denn Eigenliebe ist an und für sich nichts Anderes, als sich die Liebe Anderer zuziehen zum eigenen Genusse, aber von ihm selbst keinen Funken Liebe mehr wiederzuspenden.

04] Also lautet demnach das Gesetz in seinem geistigen Ursinne; man sagt aber:

05] Hier ist es doch offenbar in einem Sinne des Buchstabens wiedergegeben, den man im Anfange eben so gut wie jetzt hätte aussprechen können; und es wäre dadurch so vielen Abirrungen vorgebeugt gewesen. - Ich aber sage: das ist allerdings richtig; wenn man einen Baum bei der Mitte auseinander spaltet, so kommt dann sicher der Kern auch nach Außen, und man kann ihn eben so bequem beschauen, wie ehedem beim concreten Baume die alleinige Rinde.

06] Der Herr aber hat den inneren Sinn darum geflissentlich weise in ein äußeres naturmäßiges Bild verhüllt, damit dieser heilige, inwendige, lebendige Sinn nicht sollte von irgend böswilligen Menschen angegriffen und zerstört werden, wodurch dann alle Himmel und Welten in den größten Schaden gebracht werden könnten. - Aus diesem Grunde hat auch der Herr gesagt: „Vor den großen und mächtigen Weisen der Welt soll es verborgen bleiben, und nur den Kleinen, Schwachen und Unmündigen geoffenbart werden."

07] Es verhält sich aber ja schon mit den Dingen der Natur gerade also. - Nehmen wir an, der Herr hätte die Bäume also erschaffen, daß ihr Kern und ihre Hauptnebenorgane zu äußerst des Stammes lägen; saget selbst, wie vielen Todesgefahren wäre da ein Baum zu jeder Secunde ausgesetzt?

08] Ihr wisset, wenn man an einem Baume seinen inneren Kern etwa geflissentlich oder muthwillig durchbohrt, so ist es um den Baum geschehen. Wenn irgend ein böser Wurm die Hauptstammwurzel, welche mit dem Kerne des Baumes in engster Verbindung ist, durchnagt, so stirbt der Baum ab. Wem ist nicht der sogenannte bösartige Sportenkäfer bekannt? Was thut dieser den Bäumen? - Er nagt zuerst am Holze und frißt sich hier und da in die Hauptorgane des Baumes ein, und der Baum stirbt ab. Wenn der Baum auf diese wohlverwahrte Weise schon so manchen Lebensgefahren ausgesetzt ist, wie vielen Lebensgefahren wäre er erst dann ausgesetzt, so seine Hauptlebensorgane zu äußerst des Stammes lägen?

09] Sehet, gerade so und noch um's Unaussprechliche heicklicher verhält es sich mit dem Worte des Herrn. - Würde da gleich anfänglich der innere Sinn nach Außen hinausgekehrt gegeben, so bestände schon gar lange keine Religion mehr unter den Menschen; denn sie hätten diesen inneren heiligen Sinn in seinem Lebenstheile eben so gut zernagt und zerkratzt, wie sie es mit der äußeren Rinde am Baume des Lebens gethan haben, - und hätten schon lange die innere heilige Stadt Gottes eben so gut zerstört, daß da kein Stein auf dem andern geblieben wäre, wie sie es für's Erste mit dem alten Jerusalem gethan haben, und wie mit dem äußeren, allein Buchstabensinn innehabenden Worte.

10] Denn das Wort Gottes in seinem äußeren Buchstabensinne, wie ihr es in der heiligen Schrift vor euch habt, ist von dem Urtexte so sehr verschieden, als wie verschieden das heutige höchst elende Städtchen Jerusalem von der alten Weltstadt Jerusalem ist.

11] Alle diese Versetzung und Zerstückung und auch Abkürzung im alleinigen äußeren Buchstabensinne ist aber dennoch dem inneren Sinne nicht nachtheilig, weil der Herr durch Seine weise Vorsehung schon von Ewigkeit her also die Ordnung getroffen hat, daß eine und dieselbe geistige Wahrheit unter den verschiedenartigsten äußeren Bildern unbeschadet erhalten und gegeben werden kann.

12] Aber ganz anders wäre es dann der Fall, wenn der Herr sogleich die nackte innere geistige Wahrheit ohne äußere schützende Umhüllung gegeben hätte. Sie hätte diese heilige lebendige Wahrheit zernagt und zerstört nach ihrem Gutdünken, und es wäre eben dadurch um alles Leben geschehen gewesen.

13] Weil aber der innere Sinn also verdeckt ist, daß ihn die Welt unmöglich je ausfindig machen kann, so bleibt das Leben gesichert, wenn auch dessen äußeres Gewand in tausend Stücke zerrissen wird. Und so klingt dann freilich der innere Sinn des Wortes, wenn er geoffenbart wird, ebenfalls also, als wäre er gleich dem Außensinne des Wortes, und kann ebenfalls durch articulirte Laute oder Worte ausgedrückt werden; deßwegen bleibt er dennoch ein innerer lebendiger, geistiger Sinn, und ist als Solcher dadurch erkennbar, weil er die gesammte göttliche Ordnung umfaßt, während das ihn enthaltende Bild nur ein spezielles Verhältnis ausdrückt, welches, wie wir gesehen haben, nie von einer allgemeinen Geltung sein kann.

14] Wie aber das so eben abgehandelte Gebot im Bilde ein äußeres Hüllwerk nur ist, und wie der euch nun bekannt gegebene innere Sinn ein wahrhaft innerer, geistiger und lebendiger ist, wollen wir sogleich durch eine kleine Nachbetrachtuug in ein klares Licht setzen.

15] Das äußere bildliche Gebot ist bekannt; innerlich heißt es: „Habe kein Verlangen nach der Liebe deines Bruders oder deiner Schwester".

16] Warum wird denn hier dieses inhalts- und lebensschwere Gebot in das Bild des nicht zu begehrenden Weibes gehüllt?

17] Ich mache euch bei dieser Gelegenheit nur auf einen Ausspruch des Herrn Selbst aufmerksam, indem Er Sich über die Liebe des Mannes zum Weibe also äußert, da Er spricht: „Also wird ein Sohn seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen."

18] Was will der Herr dadurch anzeigen? - Nichts Anderes, als: des Menschen mächtigste Liebe auf dieser Welt ist die zu seinem Weibe. Was aber liebt der Mensch in seiner Ordnung mehr auf der Welt als sein liebes, braves, gutes Weib? - Im Weibe steckt somit des Mannes ganze Liebe; wie auch umgekehrt das Weib in seiner Ordnung sicher nichts mächtiger liebt, als einen ihrem Herzen entsprechenden Mann.

19] So wird denn auch in diesem Gebote unter dem Bilde des Weibes, des Mannes, oder des Menschen überhaupt, complete Liebe gesetzt, weil das Weib im Ernste nichts Anderes, als eine äußere zarte Umhüllung der Liebe des Mannes ist.

20] Wem kann nun bei dieser Erklärung entgehen, daß unter dem Bilde: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib," - eben so viel gesagt ist, als: Du sollst nicht dir zu deinem Vortheile die Liebe deines Nächsten verlangen; und das natürlich die ganz complete Liebe, weil das Weib auf der Welt ebenfalls die complete Liebe des Mannes in sich begreift.

21] Wenn ihr aber nun dieses nur einigermaßen genau betrachtet, so werdet ihr es gar leicht sogar mit den Händen greifen, daß alle die äußeren uns bekannten Unbestimmtheiten des äußeren bildlichen Gesetzes, nichts als lauter innere allgemeine Bestimmtheiten sind; - wie aber, wollen wir sogleich sehen.

22] Sehet, das Du ist unbestimmt; warum denn? Weil dadurch im inneren Sinne Jedermann verstanden wird; ob des männlichen oder des weiblichen Geschlechtes, das ist gleich. - Also ist das Weib ebenfalls unbestimmt, und ist nicht gesagt, ob ein altes oder ein junges, ob eins oder mehrere, ob ein Mädchen oder eine Wittwe; - warum ist Solches unbestimmt? Weil die Liebe des Menschen nur Eine ist, und ist weder ein altes noch ein junges Weib, noch eine Wittwe, noch ein lediges Mädchen, sondern sie als die Liebe ist in jedem Menschen nur gleich Eine, nach welcher der andere Nebenmensch kein Verlangen haben soll, weil für's Erste diese Liebe eines jeden Menschen eigenstes Leben selbst ist, und weil für's Zweite dann ein Jeder, der nach solcher Liebe ein habsüchtiges, neidisches oder geiziges Verlangen hat, gewisserart als ein Mordlustiger neben seinem Nächsten erscheint, indem er sich der Liebe oder des Lebens desselben zu seinem Vortheile bemächtigen möchte. - Also ist auch der Nächste unbestimmt; warum denn? - Weil dadurch im geistigen Sinne jeder Mensch ohne Unterschied des Geschlechtes verstanden wird.

23] Ich meine, daraus sollte euch schon so ziemlich klar sein, daß der von mir euch kundgegebene innere Sinn der alleinig rechte ist, weil er Alles umfaßt.

24] Es wird freilich hier vielleicht Mancher aus seinem Mondviertellichte heraus sich hochbrüstend einwendend sagen: Ja, wenn die Sache sich so verhält, da ist es ja hernach gar keine Sünde, wenn Jemand seines Nächsten Weib oder Töchter beschläft, oder sie dazu verlangt. - Da sage ich: Oho, mein lieber Freund! Mit diesem Einwurfe hast du ungeheuer stark in's Blaue gedroschen. Wird unter Dem, daß du nicht die Liebe deines Nächsten begehren solltest, das seine complete Liebe, nicht alles das verstanden, was er als lebenstheuer in seinem Herzen trägt? - Siehe, also ist auch im Ernste nicht nur das Weib und die Töchter deines Nächsten in diesem Gebote deinem Verlangen vorenthalten, sondern Alles, was die Liebe deines Bruders umfaßt.

25] Aus diesem Grunde wurden auch uranfänglich die zwei letzten Gebote als Ein Gebot zusammengezogen gegeben, und sind nur dadurch unterschieden, daß im neunten Gebote des Nächsten Liebe mehr sonderheitlich zu respectiren dargestellt ward, in unserem zehnten Gebote aber eben dasselbe als im inwendigsten Sinne ganz allgemein znsammengefaßt zur respectirenden Beobachtung dargestellt wird.

26] Daß sonach dadurch auch das Begehren des Weibes und der Töchter des Nächsten verboten ist, kann doch sicher ein jeder Mensch mit seinen Händen greifen, und es verhält sich mit der Sache gerade also, als so man Jemanden einen ganzen Ochsen giebt, man damit auch seine Extremitäten, seinen Schweif, Hörner, Ohren und Füße etc. mitgiebt; - oder so der Herr Jemanden eine Welt schenken würde, da wird Er ihm doch Alles, was auf derselben ist, mitgeben und nicht sagen: Nur das Innere der Welt gehört dein, die Oberfläche aber gehört Mir.

27] Ich meine nun, klarer kann die Sache zum Verständnisse des Menschen nicht gegeben werden. Wir haben nun den inneren wahren Sinn dieses Gebotes, wie er in allen Himmeln ewig geltend ist, und die Glückseligkeit aller Engel bedingt, vollkommen kennen gelernt, und haben jedem möglichen Einwurfe begegnet. Also sind wir damit auch zu Ende, und wollen uns daher sogleich in den elften glänzenden Saal vor uns begeben; - allda werden wir erst alles bisher Gesagte im klarsten Lichte wie auf einem Punkte zusammengefaßt und bestätigt finden. - Also treten wir hinein!

01] Das Gesetz lautet sonach, wie wir es bereits auswendig wissen: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib« oder: Du sollst kein Verlangen haben nach deines Nächsten Weib, was eines und dasselbe ist. - Wer ist denn »das Weib« und wer ist der »Nächste«?

02] Das Weib ist eines jeden Menschen Liebe und der Nächste ist jeder Mensch, mit dem ich irgend in Berührung komme oder der irgend, wo es sein kann, möglich und notwendig ist, meiner Hilfe bedarf. Wenn wir das wissen, so wissen wir im Grunde schon alles.

03] Was besagt demnach das Gebot? Nichts anderes als: Ein jeder Mensch soll nicht eigenliebig die Liebe seines Nächsten fordernd zu seinem Besten verlangen; denn Eigenliebe ist an und für sich nichts anderes, als sich die Liebe des andern zuziehen zum eigenen Genusse, aber ihm selbst keinen andern Funken Liebe mehr wiederzuspenden.

04] Also lautet demnach das Gesetz in seinem geistigen Ursinne. Man sagt aber:

05] Hier ist es offenbar im Sinne des Buchstabens wiedergegeben, den man im Anfange ebensogut wie jetzt hätte aussprechen können, wodurch vielen Abirrungen vorgebeugt gewesen wäre. - Ich aber sage: Das ist allerdings richtig. Wenn man einen Baum in der Mitte auseinanderspaltet, so kommt der Kern auch nach außen, und man kann ihn dann ebenso bequem beschauen wie ehedem die Rinde.


06] Der Herr aber hat den inneren Sinn darum geflissentlich weise in ein äußeres naturmäßiges Bild verhüllt, damit dieser heilige, inwendige, lebendige Sinn nicht sollte von irgend böswilligen Menschen angegriffen und zerstört werden, wodurch dann alle Himmel und Welten in den größten Schaden gebracht werden könnten. Aus diesem Grunde hat auch der Herr gesagt: »Vor den großen und mächtigen Weisen der Welt soll es verborgen bleiben und nur den Kleinen, Schwachen und Unmündigen geoffenbart werden«.

07] Es verhält sich so ja schon mit den Dingen der Natur. Nehmen wir an, der Herr hätte die Bäume sogestalt erschaffen, daß ihr Kern und ihre Hauptlebensorgane zu äußerst des Stammes lägen - sagt selbst, wie vielen Gefahren wäre da ein Baum zu jeder Sekunde ausgesetzt?

08] Ihr wißt, wenn man eines Baumes inneren Kern geflissentlich oder mutwillig durchbohrt, so ist es um den Baum geschehen. Wenn irgendein böser Wurm die Hauptstammwurzel, welche mit dem Kerne des Baumes in engster Verbindung ist, durchnagt, so stirbt der Baum ab. Wem ist nicht der bösartige sogenannte »Borkenkäfer« bekannt? Was tut dieser den Bäumen? Er nagt zuerst am Holze und frißt sich hier und da in die Hauptorgane des Baumes ein und der Baum stirbt ab. Wenn der Baum auf diese wohlverwahrte Weise schon so manchen Lebensgefahren ausgesetzt ist, wie vielen wäre er erst dann ausgesetzt, so seine Hauptlebensorgane zu äußerst des Stammes lägen?


09] Seht, gerade so und noch ums Unaussprechliche heikler verhält es sich mit dem Worte des Herrn. Würde da gleich anfänglich der innere Sinn nach außen gegeben, so bestände schon lange keine Religion mehr unter den Menschen. Sie hätten diesen inneren heiligen Sinn in seinem Lebensteile ebensogut zernagt und zerkratzt, wie sie es mit der äußeren Rinde am Baume des Lebens getan haben. Schon lange wäre so die innere heilige Stadt Gottes ebenso zerstört, daß da kein Stein auf dem andern geblieben wäre, wie sie es mit dem alten Jerusalem getan haben und wie sie es getan haben mit dem äußeren, allein Buchstabensinn innehabenden Worte.

10] Denn das Wort Gottes in seinem äußeren Buchstabensinne, wie ihr es in der Heiligen Schrift vor euch habt, ist von dem Urtext so sehr verschieden, wie das heutige höchst elende Städtchen Jerusalem von der alten Weltstadt Jerusalem verschieden ist.

11] Diese ganze Versetzung und Zerstückung und auch Abkürzung im alleinigen äußeren Buchstabensinne ist aber dennoch dem inneren Sinne nicht nachteilig, weil der Herr durch Seine weise Vorsehung schon von Ewigkeit her die Ordnung so getroffen hat, daß eine und dieselbe geistige Wahrheit unter den verschiedenartigsten äußeren Bildern unbeschadet erhalten und gegeben werden kann.

12] Ganz anders aber läge der Fall, wenn der Herr sogleich die nackte innere geistige Wahrheit ohne schützende äußere Umhüllung gegeben hätte. Sie hätten diese heilige, lebendige Wahrheit zernagt und zerstört nach ihrem Gutdünken, und es wäre eben dadurch um alles Leben geschehen gewesen.

13] Weil aber der innere Sinn so verdeckt ist, daß ihn die Welt unmöglich je ausfindig machen kann, bleibt das Leben gesichert, wenn auch dessen äußeres Gewand in tausend Stücke zerrissen wird. Und so klingt dann freilich der innere Sinn des Wortes, wenn er geoffenbart wird, als wäre er gleich dem Außensinne des Wortes, und kann ebenfalls durch artikulierte Laute oder Worte ausgedrückt werden. Aber das beirrt die Sache nicht im geringsten. Deswegen bleibt er dennoch ein innerer, lebendiger, geistiger Sinn und ist als solcher dadurch erkennbar, daß er die gesamte göttliche Ordnung umfaßt, während das ihn enthaltende Bild nur ein spezielles Verhältnis ausdrückt, welches, wie wir gesehen haben, nie von einer allgemeinen Geltung sein kann.

14] Wie aber das soeben abgehandelte Gebot im Bilde nur ein äußeres Hüllwerk ist, und wie der euch nun bekannt gegebene innere Sinn ein wahrhaft innerer, geistiger und lebendiger ist, das wollen wir oagleich durch eine kleine Nachbetrachtung in ein klares Licht setzen.

15] Das äußere bildliche Gebot ist bekannt, innerlich heißt es: Habe kein Verlangen nach der Liebe deines Bruders oder deiner Schwester!

16] Warum wird denn hier dieses inhalts- und lebensschwere Gebot in das Bild des nicht zu begehrenden Weibes gehüllt?

17] Ich mache euch bei dieser Gelegenheit nur auf einen Ausspruch des Herrn Selbst aufmerksam, in dem Er Sich über die Liebe des Mannes zum Weibe also äußert, da Er spricht: »Also wird ein Sohn seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen«.

18] Was will der Herr dadurch anzeigen? Nichts anderes als: des Menschen mächtigste Liebe auf dieser Welt ist die zu seinem Weibe. Denn was liebt der Mensch in seiner Ordnung mehr auf der Welt als sein liebes braves, gutes Weib? Im Weibe steckt somit des Mannes ganze Liebe, wie umgekehrt das Weib in seiner Ordnung sicher nichts mächtiger liebt als einen ihrem Herzen entsprechenden Mann.


19] So wird denn auch in diesem Gebote unter dem Bilde des Weibes die ganze Liebe des Mannes oder des Menschen überhaupt gesetzt, weil das Weib im Ernste nichts anderes als eine äußere, zarte Umhüllung der Liebe des Mannes ist.

20] Wem kann nun bei dieser Erklärung entgehen, daß unter dem Bilde: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Wei« ebensoviel gesagt ist als: Du sollst nicht zu deinem Vorteil die Liebe deines Nächsten verlangen, und zwar die ganze Liebe, weil das Weib auf der Welt ebenfalls die ganze Liebe des Mannes in sich begreift.

21] Wenn ihr dieses nur einigermaßen genau betrachtet, so werdet ihr es sogar mit den Händen greifen, daß alle äußeren, uns bekannten Unbestimmtheiten des äußeren bildlichen Gesetzes nichts als lauter innere allgemeine Bestimmtheiten sind. Wie, wollen wir sogleich sehen.


22] Seht, das »Du« ist unbestimmt. Warum? Weil dadurch im inneren Sinne jedermann verstanden wird, einerlei ob männlichen oder weiblichen Geschlechtes. Ebenso ist das Weib unbestimmt, denn es ist nicht gesagt, ob ein altes oder ein junges, ob eines oder mehrere, ob ein Mädchen oder eine Witwe. Warum ist solches unbestimmt? Weil die Liebe des Menschen nur eine ist, und ist weder ein altes noch ein junges Weib, noch eine Witwe, noch ein lediges Mädchen, sondern sie als die Liebe ist in jedem Menschen nur eine. Nach dieser soll der Nebenmensch kein Verlangen haben, weil sie eines jeden Menschen eigenstes Leben ist. Ein jeder, der nach dieser Liebe ein habsüchtiges, neidisches oder geiziges Verlangen hat, erscheint gewisserart als ein Mordlustiger neben seinem Nächsten, indem er sich dessen Liehe oder Leben zu seinem Vorteil bemächtigen möchte. Also ist auch der Nächste unbestimmt. Warum? Weil darunter im geistigen Sinne jeder Mensch ohne Unterschied des Geschlechtes ²verstanden wird.


23] Ich meine, daraus sollte euch schon ziemlich klar sein, daß der von mir euch kundgegebene innere Sinn der allein rechte ist, weil er alles umfaßt.

24] Es wird hier vielleicht mancher, aus seinem Mondviertellichte sich brüstend, einwenden und sagen: Wenn die Sache sich so verhält, da ist es ja keine Sünde, wenn jemand seines Nächsten Weib oder Töchter beschläft oder sie dazu verlangt. Da sage ich: Oho, mein lieber Freund! Mit diesem Einwurfe hast du stark ins Blaue gedroschen. Wird unter dem, daß du die Liebe deines Nächsten nicht begehren sollst, und zwar seine ganze Liebe, nicht all das verstanden, was er als lebensteuer in seinem Herzen trägt? Siehe, also sind auch im Ernste nicht nur das Weib und die Töchter deines Nächsten in dem Gebote deinem Verlangen vorenthalten, sondern alles, was die Liebe deines Bruders umfaßt.


25] Aus diesen Grunde auch wurden uranfänglich die zwei letzten Gebote als ein Gebot zusammen gegeben. Sie sind nur dadurch unterschieden, daß im neunten Gebote des Nächsten Liebe mehr sonderheitlich zu respektieren dargestellt ist, im zehnten Gebote aber wird eben dasselbe im inwendigsten Sinne ganz allgemein zur respektierenden Beobachtung zusammengefaßt dargestellt.


26] Daß sonach auch das Begehren des Weibes und der Töchter des Nächsten verboten ist, kann sicher ein jeder Mensch mit seinen Händen greifen. Es verhält sich mit der Sache gerade also, als so man jemandem einen ganzen Ochsen gibt, man damit auch seine Extremitäten, seinen Schweif, Hörner, Ohren und Füße usw. mitgibt. Oder so der Herr jemandem eine Welt schenken würde, da wird er ihm doch alles, was auf derselben ist, mitgeben und nicht sagen: Nur das Innere der Welt ist dein, die Oberfläche aber gehört mir.

27] Ich meine, klarer kann die Sache zum Verständnisse des Menschen nicht gegeben werden. Wir haben nun den inneren, wahren Sinn dieses Gebotes, wie er in allen Himmeln ewig geltend ist und die Glückseligkeit aller Engel bedingt, vollkommen kennengelernt und sind jedem möglichen Einwurfe begegnet. Also sind wir damit auch zu Ende und wollen uns daher sogleich in den elften glänzenden Saal vor uns begeben. Allda werden wir erst alles bisher Gesagte im klarsten Lichte wie auf einem Punkte zusammengefaßt und bestätigt finden. - Also treten wir hinein! -

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