Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 10


Kapitelinhalt 207. Kapitel: Jesus über die Unfaßbarkeit der Schöpfung.

01] Sagte der Oberstadtrichter: »Ja, Herr und Meister. Du hast ein gar überaus treffendes Bild gewählt, das ich - freilich nicht in dem großartigen Maßstabe - selbst in meiner Jugend erlebt habe; denn ich habe mit meinem damals noch lebenden Vater die nördlicheren Teile des eigentlichen Römerreichsgebietes bereist und kam in die Gegend von Venetien. Da sah ich ein großartiges Palastgebäude, nach allen Regeln der Kunst seiner Vollendung nahe, und mich wandelte auch sehr die Begierde an, den kühnen Baumeister persönlich kennenzulernen.

02] Ich gelangte darauf mit meinem Vater bald in seine Wohnung und in seine bildnerische Werkstätte und kam mit dem Baumeister selbst in Begleitung meines Vaters bald zusammen. Er war aber auch ein ganz schlichter und einfacher Mann, ein geborener Grieche von der kleinen Insel Rhodos, dem man es von weitem gar nicht angesehen hätte, daß er die Fähigkeit besäße, die Finger an seiner Hand in der Ordnung abzuzählen; aber so man mit ihm zu reden anfing, da merkte man es wohl sogleich, daß er neben der alten Rechenkunst des Euklid noch mehrere andere Künste und Wissenschaften in sich unter ein Dach gebracht hatte, und ich bekam dann vor diesem großen Baumeister und Bildner wahrlich eine großartigste Hochachtung.

03] Aber nur weiß ich jetzt noch nicht, o Herr und Meister, was Du mit diesem vortrefflich gewählten Bilde in bezug auf Dich so ganz eigentlich hast sagen wollen!«

04] Sagte Ich: »Mein lieber Freund und Bruder, nichts anderes als das, daß nun deine vermeinte große Seligkeit in Meiner und des Erzengels Raphael Gesellschaft noch nicht den höchsten Grad erlangt hat und diesen erst dann erlangen wird, wenn du alle Meine Bauten und Schöpfungen stets näher und tiefer wirst kennenlernen! Du weißt zwar nun wohl, daß in Mir die großartigste schöpferische Eigenschaft zu Hause ist, und du machst dir von derselben einen dir möglich größten Begriff, seit du die etlichen Zeichen von Mir hast wirken sehen; du wirst dir sicher aber einen ganz anderen Begriff machen, wenn dein innerer Gesichtskreis über Mich durch die nähere Betrachtung Meiner Werke um ein überaus Großes erweitert und erhöht werden wird. Denn dann wird dir erst das wahrhaft Göttliche in Mir in einem stets höheren Licht erscheinen, obschon im allerhöchsten Finallichte, das Ich Selbst in Meinem Innern bin, ewig niemals, und das darum, weil das jedem aus Mir geschaffenen Geiste selbst in seiner höchst möglichen Vollendung unmöglich ist.

05] Du denkst dir jetzt freilich und sagst in dir: "Wieso denn? Da bleibt ja der höchste und vollendete Geist dennoch ein ewiges Nichts vor Dir!"

06] Ja, Ich sage dir, da hast du recht: Mir ist wohl alles möglich, aber ein zweites, Mir gleich vollkommenes Ich kann Ich nicht erschaffen, so wie auch keinen zweiten unendlichen Raum und keine zweite ewig dauernde Zeit, und so kann denn auch der vollkommenste Engelsgeist ebensowenig je die endliche Vollstärke des Lichtes in Mir, noch die Grenzen des unendlichen Raumes je erreichen und die Stunden der unendlichen Zeitdauer zählen. Er kann sich über diese drei Dinge wohl immer weiter hinaus gedehnte Begriffe machen, aber an ein Ende derselben dennoch ewig niemals gelangen.

07] Du siehst die Lichtstärke der Sonne und hältst ihr Licht schon für das stärkste, was dein Begriff fassen kann, - wie wäre es denn, so Ich dir statt der einen Sonne gleich tausend Sonnen von gleicher Größe und Lichtstärke ans Firmament stellte? Würde da das Licht nicht auch ums tausendfache verstärkt auf diese Erde fallen?«

08] Sagte der Oberstadtrichter: »O Herr und Meister, tue du nur das nicht, denn wir haben besonders im Sommer an dem Licht der einen Sonne zur Übergenüge! Wenn erst tausend Sonnen am Firmamente leuchteten, so würden alle Geschöpfe auf dieser Erde in kürzester Zeit verbrennen und nach ihnen auch die ganze große Erde selbst. Denn ich habe schon einmal gesehen, und zwar zu Alexandrien, was durch einen arkadischen Hohlspiegel das Licht der Sonne zu bewirken vermag, - und es wird mittels dieses einen Spiegels nur die eine Sonne etwa ums 10-20 fache vergrößert und bewirkt im Brennpunkte schon eine derartig verheerende Wirkung, daß sie alles in Brand setzt; jetzt denke man sich erst die Wirkung von tausend Sonnen!«

09] Sagte Ich: »Nun ja, da hast du recht, und die Erde hat an der einen Sonne zur Übergenüge genug; Ich wollte dich aber dadurch nur darauf aufmerksam machen, daß sogar das Naturlicht bis ins Unendliche potenziert werden kann, - um wieviel mehr erst das geistige Licht! Darum heißt es auch im Moses, daß kein geschaffenes Wesen Gott in Seiner inneren Wirklichkeit schauen und dabei das Leben erhalten kann.«

10] Sagte der Oberstadtrichter: »O Herr und Meister! Nun wird es mir ordentlich bange in Deiner Gegenwart, denn ich fühle stets mehr und mehr meine vollste Nichtigkeit und Dein vollstes Alles in Allem, und Plato hatte recht, als er sagte: "Ich habe im Gesichte den Saum des Kleides Gottes gesehen, es war alles in Licht verwandelt, und ich fand mich darin wie völlig in nichts aufgelöst; nur die Liebe zur Gottheit behielt mir noch das Bewußtsein!"«

11] Sagte Ich: »Da hatte dieser Weltweise recht, - aber für seine Zeit; von nun an aber wird es mit dieser Sache anders stehen! Denn darum habe Ich Mich Selbst mit einem Leibe umgeben, damit Ich euch künftighin nicht mehr als ein unbegreiflicher und unschaubarer Gott erscheine, sondern als ein Mensch, mit dem ihr ebenso wie mit euch selbst reden und verkehren könnt, und habe euch dadurch nicht nur zu Meinen vollkommen ebenbildlichen Kindern, sondern auch zu Meinen wahren Freunden und Brüdern gemacht.

12] Mit dieser Bescherung von Meiner Seite aus werdet ihr wohl alle zufrieden sein, und es wird euch nicht genieren, so ihr es einseht, daß Ich in Meinen ewigen, göttlichen Eigenschaften niemals erreichbar bin.

13] Aber jetzt kommt das gebratene Lamm, und wir wollen uns mit dem beschäftigen und alles andere unterdessen beiseite setzen!«



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