Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 7


24. Kapitel: Erzengel Raphael bekleidet Arme.

01] Hier winkte Ich dem Raphael und beschied ihn dahin, daß er der Jüdin, ihrem Bruder und auch ihren Eltern entsprechende Kleider verschaffen solle.

02] Darauf ging Raphael schnell an den Tisch zu den vieren und sagte zu ihnen: »Was für Kleider habt ihr daheim in eurer Wohnstube?«

03] Sagte die Jüdin: »O du liebster und gar überaus himmlisch schöner und ebenso mächtiger Diener jenes gar herrlichen Mannes! Du weißt ohnehin, wie gar schlecht wir schon seit langem mit unserer Bekleidung bestellt sind, und das wahrlich ohne unsere Schuld. Und so meine ich, daß wir dir für diese deine immerhin gütige Frage eine Antwort ganz schuldig bleiben können, und das um so mehr, weil ich dir schon ohnehin angezeigt habe, wie es mit unserer Bekleidung steht. Gehe hin und überzeuge dich!«

04] Sagte Raphael: »Darum habe ich dich auch nicht gefragt; denn euer Kleiderbesitztum in eurer Wohnstube kenne ich ganz genau; aber ich kenne noch etwas, das du wegen deines etwas unzeitigen Ehrgefühls gerne verschweigen möchtest. Doch siehe, bei uns ist kein Verschweigen möglich, da wir um gar alles nur zu genau wissen. Du hast aus Liebe zu deinen Alten und zu deinem Bruder deine guten und sogar sehr kostbaren Kleider einem griechischen Pfandleiher gegen hundert Groschen auf ein Jahr lang versetzt und hast den Pfandschein daheim, und siehe, davon hast du mir eben nicht gar besonders vieles gesagt! So du nun jene Kleider besäßest, - wärest du damit nicht zufrieden? Für deine Alten und für deinen Bruder könnte dann schon hier gesorgt werden!«

05] Hier ward die Junge Jüdin etwas verlegen, sagte aber nach einer kleinen Weile dennoch: »Ja, ja, du hast wohl die volle Wahrheit geredet; aber was soll das mir nun noch nützen? Jene guten Kleider waren ja auch nur ein Geschenk von einem reichen Anverwandten, der leider gestorben ist und uns nachher keine weitere Unterstützung hat angedeihen lassen können. Die mir noch bei seinen Lebzeiten geschenkten Kleider aber waren auch das ganze Erbe, das uns allen zugute kam; alles andere erbten seine drei Söhne, die aber sehr harte Menschen sind und Arme nicht mehr ansehen wollen.

06] Ich selbst aber habe jene kostbaren Kleider nie an meinem Leibe getragen, da sie sich erstens für ein armes Mädchen nicht geschickt hätten und mir fürs zweite auch zu groß gewesen wären. Unsere große Not aber zeigte mir damit einen andern Ausweg. Weil ich sie des Andenkens wegen schon auch nicht verkaufen wollte, so versetzte ich sie mit dem Gedanken, daß es etwa in einem Jahre doch möglicherweise irgend also sich fügen werde, daß ich sie zurücklösen könnte. Aber bei unserem stets wachsenden Elende wäre trotz des Pfandscheins in meinen Händen von einem Zurücklösen wohl ohnehin nie mehr die Rede gewesen, und so habe ich denn auch lieber nichts davon gesagt; und es zwang mich auch noch der Umstand, daß das Versetzen bei uns zu keiner besonders preiswürdigen Tugend gehört, davon eben keine Erwähnung zu machen. Und jetzt weißt du, allerschätzbarster, jugendlicher Freund, aber auch schon alles; es fragt sich jetzt nur, was da zu machen ist!«

07] Sagte der Engel mit freundlicher Miene: »Was anderes als auslösen! Doch es würde das dir, du meine liebe Schwester in Gott dem Herrn, viele Gänge und Unbequemlichkeiten machen, und so will ich das an deiner Stelle tun. Ist dir das recht also?«

08] Sagte die Jüdin: »Ja, recht wäre es mir gar sehr; aber fürs erste habe ich den Pfandschein nicht hier bei mir, und fürs zweite wohnt der Grieche gar weit von hier und kommt nur alle Monde einmal nach Jerusalem, macht da seine Geschäfte ab und zieht dann wieder dahin, wo er zu Hause ist, ich glaube gar in Tyrus oder Sidon. Er kann jetzt wohl auch hier in Jerusalem sein, was ich nicht wissen kann, da er ganz gewiß nur zu den Osterfesten nach Jerusalem kommt und da seine Hauptgeschäfte abmacht.«

09] Sagte Raphael: »Das macht alles nichts! Weil es dir also recht ist, so werde ich mit deinem Pfandscheine deinen Griechen schon bald irgendwo finden, deine Kleider auslösen und sie dir selbst hierherbringen. Wie bald möchtest du sie wohl haben?«

10] Sagte die Jüdin: »O holdseligster Freund, wenn du das auf ganz natürlichem Wege verrichten willst, so wirst du wohl mehrere Tage zu tun haben, bis du dieses Geschäft mit dem Griechen wirst abmachen können; aber da dir auch Wunderbares möglich ist, so könntest du so etwas vielleicht auch in einer viel kürzeren Zeit zustande bringen!«

11] Sagte darauf Raphael: »Nun, so zähle denn die Augenblicke, die ich dazu benötigen werde, um dir zuerst deinen Pfandschein zu holen! Nun, hast du die Augenblicke schon zu zählen angefangen?«

12] Sagte die Jüdin: »Wie kann ich das, solange du noch hier weilst?«

13] Sagte Raphael lächelnd: »Ich war aber nun schon fort und habe hier deinen Pfandschein auch schon in meinen Händen. Sieh ihn an, ob er wohl der rechte ist!«

14] Hier fingen alle im höchsten Grade zu staunen an über solch eine nie erhörte Schnelligkeit, und Agrikola und noch andere Römer sagten: »Aber Freund, du warst ja keinen Augenblick abwesend! Wie war dir das möglich? Du hast den Pfandschein wahrscheinlich schon früher, als du diese Familie in ihrer Wohnung abgeholt hast, gleich deshalb mitgenommen, um nun damit einen nützlichen Gebrauch zu machen? Denn das ist doch wohl nicht zu glauben, daß du in einem nicht denkbar schnellsten Augenblick hin und zurück hättest kommen können!?«

15] Sagte Raphael: »In dieser materiellen Welt und bei den Menschen ist gar vieles nicht möglich, was Gott und Seiner Macht doch möglich ist! Du weißt aber nun aus dem Munde dieser Jüdin, daß jener Grieche, der ihre Kleider als Pfand für die ihr dargeliehenen hundert Groschen besitzt, nun in Tyrus sich befindet, obschon sein Geschäftsdiener wohl hier ist und seine Geschäfte besorgt. Seine Geschäftsbude ist aber doch gut bei zwei Stunden Weges außerhalb der Stadt in der Richtung gen Bethlehem hin, und ich werde dieser Armen Kleider ebenso schnell herbeischaffen, wie ich ihr nun diesen Pfandschein herbeigeschafft habe, und du wirst dann nicht sagen können, daß ich etwa auch schon früher ihre Kleider abgeholt habe. Zähle du nun die Augenblicke, die ich zu dieser Arbeit brauchen werde! Hast du sie schon gezählt?«

16] Sagte Agrikola: »Wie soll ich sie wohl gezählt haben, da du dich von hier noch nicht entfernt hast?«

17] Sagte Raphael: »So sieh hin! Dort auf der Bank neben der Tür, in ein Tuch gut eingebunden, befinden sich schon die völlig ausgelösten Kleider dieser armen Jüdin; sie soll sie in Augenschein nehmen und euch sagen, ob dies nicht vollkommen ihre ihr wohlbekannten Kleider sind!«

18] Hier erhob sich alsbald die Jüdin, nahm unter der größten Verwunderung die Kleider in Augenschein und erkannte sie auch sogleich als vollkommen die ihrigen.

19] Da aber ihre Mutter noch schlechter bekleidet war als sie selbst, so sagte sie zu Raphael (die Jüdin): »Höre, du mein überwunderbarer, junger Freund, ich frage dich gar nicht, wie es dir möglich war, mir gar so urplötzlich diese Kleider herbeizuschaffen, die ein Weib zur Übergenüge bekleiden können, doch für mich und diese meine Mutter nicht ausreichen würden! Daher gebe ich sie ihr, auf daß sie sich völlig bekleide; ich selbst aber will diese ihre Kleider nehmen, die sie nun am Leibe hat, und sie werden genügen, um meines Leibes Blößen zu bedecken auf so lange hin, bis ich durch die Güte dieses weltmächtigen Römers zu einem besseren Kleide kommen werde. Lasst mich aber mit der Mutter in ein einsames Zimmer treten, in welchem wir uns umkleiden können!

20] Zuvor aber frage ich dich, du wahrhaft unbegreifbar wundermächtiger Jüngling, ob diese sonst kostbaren Kleidungsstücke nun wohl als rein anzusehen sind; denn sie befanden sich zuvor in den Händen eines Heiden, die vor uns Juden unrein sind. Ich wollte aber lieber gar kein besseres Kleid an den Leib dieser meiner Mutter tun, so sie durch dasselbe nur auf einen Tag lang unrein werden könnte.«

21] Sagte Raphael: »Mein Kind, was du mit dem Kleide nun tun willst, das ist wohlgeraten und wohlgetan! Tue also nach deinem Herzen, und es wird dir das gute Früchte tragen! Wegen der Reinheit der Kleidungsstücke aber habe keine Sorge; denn was sich in meinen Händen befand, das ist auch völlig rein. Lazarus aber wird dir und deiner Mutter schon ein Zimmer anweisen, in welchem ihr euch umkleiden könnet.«

22] Darauf dankten beide, nahmen die Kleider, und Lazarus führte sie sogleich in ein kleines Gemach, allwo sie sich umkleiden konnten.

23] Als nun die Mutter ganz köstlich bekleidet war, nahm die Tochter der Mutter abgelegte, schon stark schadhafte Kleider und bekleidete sich damit und hatte eine große Freude an der Freude ihrer nun wohlbekleideten Mutter und achtete nicht darauf, daß sie selbst gar armselig bekleidet war.

24] Als die beiden bald wieder zu uns in den Speisesaal kamen, siehe, da war die Tochter ebenso köstlich bekleidet wie ihre Mutter, und sie fing an, sich sehr zu wundern, daß sie nun auch also gar köstlich bekleidet war gleichwie ihre Mutter. Aber noch höher stieg ihre nimmer aufhören wollende Verwunderung, als sie am Tische der Römer auch den Vater und den Bruder gar festlich bekleidet antraf.



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