Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 7


10. Kapitel: Das Geständnis des jüdischen Obersten

01] Hier war auf Meinen innern Ruf Raphael auch schon da, zu dem Ich innerlich sagte: »Horche nun auf das Verlangen des Römers; denn Ich gebe ihm Gedanken, Worte und Willen!«

02] Als Agrikola den Raphael bemerkte, sagte er: »Ich dachte mir es ja, daß du nicht lange auf dich warten lassen wirst!«

03] Sagte Raphael: »Was du willst, weiß ich bereits! Es wird alles binnen weniger Augenblicke in der Ordnung sein; denn die verlangten Menschen wohnen nicht weit von hier, und ich werde sie darum auch bald herbeigeschafft haben.«

04] Sagte nun der Oberste: »Wozu das?«

05] Sagte Agrikola: »Du wirst reden, wenn du gefragt wirst; jetzt schweige!«

06] Hier entfernte sich der Engel schnell und brachte die beiden Alten und die junge, sehr ärmliche, aber der Gestalt nach wahrlich sehr schöne Schwester, und zugleich kamen hinter ihnen zehn römische Soldaten und ein von Pilatus abgeordneter Richter.

07] Raphael sagte zu Agrikola: »Freund, also wird es recht sein!«

08] Sagte Agrikola: »Das sicher; denn also wollte ich es ja haben!«

09] Hierauf trat Raphael zurück und stand in der vollsten Bereitschaft, auf Meinen Wink zu handeln.

10] Agrikola wandte sich nun zu den dreien und fragte sie, ob sie den mißhandelten Menschen wohl kennten.

11] Sagte die Schwester: »O Jehova, was ist denn mit meinem armen Bruder geschehen? Er ging gestern nachmittag irgendwohin, Brot zu holen, da wir schon zwei volle Tage nichts gegessen hatten, kam aber nicht wieder. Wir hatten eine große Angst um ihn und beteten, daß ihm ja nichts Arges begegnen möge. Und nun treffen wir ihn nach der Nachricht jenes lieben, jungen Boten hier in einem Zustande, der nichts Gutes hinter sich haben kann!«

12] Die Schwester wollte noch weiter forschen, doch Agrikola ermahnte sie mit freundlicher Stimme, sagend: »Lasse, du lieblichste Tochter Zions, nun alles weitere Fragen; denn dein Bruder befindet sich nun schon ohnehin in den besten Händen! Ich werde dir aber nun jenen Tempelobersten, der sein Gesicht soeben von uns abgewandt hat, vorstellen, und du mußt mir der vollsten Wahrheit nach bekennen, ob und wie du ihn kennst!«

13] Sagte die Schwester: »O Herr, erspare dir diese Mühe; denn diesen Elenden habe ich zu meinem Entsetzen bei meinem Hergehen von weitem schon erkannt!«

14] Sagte Agrikola: »Das macht nichts; desto besser für euch alle!«

15] Hierauf berief der Römer mit sehr gebieterischer Stimme den Obersten, sagend: »Nun tritt offenen Angesichtes näher und rede! Was kannst du nun auf solch eine gegen dich gerichtete Anklage erwidern? Bekenne offen die Wahrheit, oder ich werde sie dich am glühenden Kreuze bekennen lassen, auf daß du der Römer Gerechtigkeit näher kennenlernen sollst; denn wir Römer machen auch mit keinerlei Priestern irgendwelche Ausnahmeumstände! Tritt her und rede!«

16] Hier wandte sich der Tempeloberste um und sagte mit bebender Stimme: »Herr voll Macht und Würde! Was soll ich hier noch erwidern können?! Es ist leider also, wie der Arme ehedem über mich ausgesagt hat, und ich habe die Strafe verdient, die du immer über mich erlassen wirst! Könnte ich je frei werden, so würde ich mein unmenschlich großes Vergehen an dieser armen Familie tausendfach gutmachen; aber ich habe keine Befreiung von einer gerechten Strafe verdient, und so wird es schwer sein, an dieser armen und höchst braven Familie das wieder gutzumachen, was ich ihr Übles zugefügt habe.«

17] Sagte Agrikola: »Ich bin kein Richter gleich euch nach dem Maße der Leidenschaft, sondern ein Richter nach dem Maße des Rechtes; ich sage aber hier, daß nun deine Hauptrichter diese vier von dir so unmenschlich tief Beleidigten sind! Wie dich diese verurteilen werden, also werde auch ich auch verurteilen! Was aber dieser Arme und Hungrige im Tempel gegen eure Schaubrote sich versündigt hat, das soll Gott richten! Vergibt ihm Der, so vergeben ihm auch wir; denn gegen uns hat er keine Sünde begangen!«

18] Hierauf wandte sich Agrikola an die arme Familie und sagte: »Bestimmt nun, was ich diesem großen Übeltäter tun soll! Denn er hat euch nicht nur in eurem Hause doppelt geschadet, da er eure keusche Tochter hat schänden wollen und, weil ihm das mißlang, dann durch seinen bösen Mund dahin wirkte, daß euer Sohn nirgends mehr eine Arbeit bekam, sondern er hat euren Sohn auch deswegen, weil er sich aus Hunger an einem Laib Schaubrot vergriff, zum Steinigungstode verurteilt, - und wäre dieser größte aller Menschenfreunde nicht dagewesen, so wäre dieser euer Sohn nun schon tot, und ihr hättet ihn nie wieder zu Gesichte bekommen!

19] Dort vorne stehen noch die tierischen Tempelhäscher und Schergen, die ihn gesteinigt hätten, - dieser Tempeloberste aber ist eben auch vorzugsweise jener allerunbarmherzigste und ungerechteste Richter, der euren Sohn zum Steinigungstode verurteilt hat! Mir ist das Gesetz über den Vergriff an den Schaubroten nicht unbekannt; die Todesstrafe hat Moses nur für den Fall des verstockten Mutwillens erlassen und nicht für den Fall einer wahren Hungersnot, wo ein jeder Jude das Recht hat, sich auch mit den Schaubroten zu sättigen, so es ihn zu gewaltig hungert, wie desgleichen auch euer großer König David getan hat, als es ihn hungerte, weil er das Gesetz Mosis besser verstand als sein damaliger Oberpriester. Damit aber spreche ich auch euren Sohn von aller Schuld frei, und an euch ist es nun, ein Urteil über diesen gewaltigen Verbrecher an euch auszusprechen!«

20] Sagte der Vater des Sohnes und der schönen Tochter: »Herr und mächtiger Richter! Wir alle danken dem großen Gott und dir und deinem Freunde, daß wir so wunderbar aus solch einer großen Gefahr gerettet worden sind. Wie aber Gott das Gute und Rechte am Ende allzeit beschützt, so bestraft Er auch allzeit das wahrhaft Böse eines verstockten Sünders, so er ohne Reue und Buße in seiner Bosheit verharrt. Bessert er sich aber ernstlich, so vergibt ihm Gott auch seine noch so großen und vielen Sünden. Darum richte ich diesen Menschen auch nicht, sondern überlasse ihn lediglich dem Willen Gottes; denn Gott allein ist ein gerechtester Richter. - Das ist unser Urteil über diesen unsern großen Feind. Wir alle vergeben ihm von Herzen alles, was er an uns Übles getan hat.«



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