Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 4, Kapitel 22


Raphael als Sänger.

01] Diese Worte vernimmt natürlich auch unser Zinka und fragt den neben ihm sitzenden Ebahl: ”Ist jener holde Junge wohl so ein Kapitalsänger? Hast du ihn schon einmal gehört?“

02] Sagt Ebahl: ”Er sagt es; ich aber habe ihn wohl schon oft reden, doch singen noch niemals gehört und bin darum auf seinen einen Ton selbst sehr neugierig!“

03] Spricht Zinka: ”Woher ist er denn, und wer ist jenes Mädchen?“

04] Antwortet Ebahl: ”Der Junge ist bei mir in Genezareth zu Hause, und das Mädchen ist meine leibliche Tochter. Sie ist erst fünfzehn Jahre alt, hat aber die ganze Schrift im Kopfe und im Herzen, - und der Junge ebenfalls und ist vorderhand Lehrer in meinem Hause. Ich kenne ihn also sehr gut! Aber von dem, dass er ein so außerordentlicher Sänger sei, wußte ich bis zur Stunde nicht eine Silbe; ich bin darum nun selbst sehr neugierig auf seinen Ton.“

05] Als Ebahl dieses ausgesprochen, sagte Raphael: ”Nun horchet und passt wohl auf!“

06] Daraufhin vernahmen alle wie aus weiter Ferne einen zwar sehr schwachen, aber so unbeschreibbar reinsten Ton, dass sie alle in eine Entzückung gerieten und Zinka in einem großen Enthusiasmus ausrief: ”Nein, so singt kein irdischer Sänger! So kann nur ein Gott singen oder mindestens ein Engel Gottes!“

07] Der Ton aber ward nach und nach stärker, lebensvoller und mächtiger. In der größten Kraft wie von tausend Posaunen ausgehend, klang er wie ein Quartsextakkord in Des-Moll, von der kleinen in die eingestrichene Oktave mit der Wiederholung der Oktave reichend, nahm darauf wieder ab und verlor sich am Ende wieder in ein schwächstes As (eingestrichen) von nie vernommener Reinheit.

08] Alle waren von diesem einen Tone so entzückt, dass sie in eine Art Betäubung ihres Sinnenlebens übergingen und sich in einer gewissen Ohnmacht befanden. Der Engel mußte sie erst alle wieder auf Meinen Wink beleben.

09] Alle erwachten darauf wie aus einem seligsten Traume, und Zinka, voll Enthusiasmus, stürzte auf den Raphael zu, umarmte ihn mit aller Gewalt und sagte: ”Junge! Du bist kein Sterblicher! Du bist entweder ein Gott oder ein Engel! Ja, mit dieser Stimme mußt du ja auch die Toten erwecken und alle Steine beleben können! Nein, nein, nein! So einen überhimmlischen Klang hat wohl noch niemals irgendein Sterblicher auf der ganzen Erde vernommen! O du überhimmlischer Junge du! Wer lehrte dich denn solche Töne aus deiner Kehle erklingen machen?!

10] Oh, ich bin ganz weg! Noch zittern alle meine Lebensfibern von der unbeschreiblichen Schönheit und Reinheit dieses Eintons! Mir kam es nicht einmal vor, als hättest du den unerhört reinsten Ton aus deiner Kehle entwickelt, sondern so kam es mir vor, als hätten sich alle Himmel aufgetan und eine Harmonie aus dem Munde Gottes wäre über die tote Erde ausgegossen worden!

11] O Gott, o Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, - Du bist kein leerer artikulierter Mundlaut! Du bist allein die Wahrheit und die reinste, ewige Harmonie! Ach, dieser Ton, dieser Ton! Ja, dieser Ton gab mir alles Verlorene, er gab mir meinen Gott, meinen heiligen Schöpfer und Vater wieder; er war für mein Gemüt ein reinstes Evangelium aus den Himmeln! Was vielleicht tausend und abermals tausend Worte nicht vermocht hätten, das bewirkte dieser eine Ton aus den Himmeln; er hat an mir einen Menschen vollendet! Mein ehedem steinernes Herz ist wie Wachs an der Sonne und so zartfühlend wie ein hängender Tautropfen!

12] O Johannes, dessen Todesverkünder ich mit dem gebrochensten Herzen sein mußte! Hättest du solch einen Ton im letzten Augenblick deines irdischen Seins vernommen, wahrlich, dir müßte des Leibes Tod zur lichtumstrahlten Pforte in die Himmel Gottes geworden sein! Aber in dem dunklen Kerker, der dich Geheiligten Gottes barg, hörte man nur Töne des Jammers, der Not und der Trauer!

13] O Menschen, Menschen, Menschen! Wie arg muß es in euren Herzen und wie finster in euren armen Seelen aussehen, die ihr das nicht vernommen habt, was ich nun vernommen habe, und das auch nicht fühlen könnt, was ich nun fühle und zeit meines Lebens fühlen werde! O du großer, heiliger Vater im Himmel, der Du ein vollebenswarmes Flehen auch eines Sünders niemals unerhört gelassen hast, - wenn ich dereinst von dieser Kummer - und Totenwelt scheide, dann lasse mich ein paar Augenblicke zuvor noch einmal einen solchen Ton vernehmen, und ich werde allerseligst diese Erde verlassen, und meine Seele soll darauf ewig loben Deinen allerheiligsten Namen!“



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