Jakob Lorber: ''Das große Evangelium Johannes', Band 2, Kapitel 131


Jesus mit Jüngern auf Bergkuppe des Morgenkopfes.

01] In wenig Schritten darauf befanden wir uns schon auf der höchsten Kuppe, die aber sehr zerrissen, zerklüftet und zerbröckelt aussah und kaum für dreißig kopffeste (schwindelfreie) Menschen einen Standraum bot.

02] Das gefiel unserm Hauptmann nicht, und er sagte: »Die Fernsicht ist wohl unbeschreibbar großartig herrlich; aber die schlechte, nach allen Seiten stark abhängige und auch sonst sehr unebene Bergplatte verleidet mir sehr den herrlichen Genuß!«

03] Sage Ich: »Freund, setze dich, so dich der Schwindel befällt, und ihr andern tut dasselbe! Ich aber werde stehenbleiben.«

04] Sagt der Hauptmann: »Wäre gut sich niedersetzen, aber wohin? Wahrlich, die Aussicht ist herrlich; man übersieht ganz Galiläa und von Judäa einen großen Teil, - auch in das Land der Samariter sieht man; aber die unwirtsame Höhe und die Furcht vor einem möglichen Hinabstürzen verleidet mir ganz abscheulich den Hochgenuß! Ich weiß es, daß mir nichts geschehen kann, und dennoch fürchte ich mich! Warum denn das?«

05] Sage Ich: »Weil du das gegenwärtig Unmögliche eines Hinabstürzens nicht begreifst, darin liegt der Grund deiner Furcht. Da sieh Meine liebe Jarah an, die springt nun so munter wie eine Gemse herum, während ihre Geschwister und selbst Mein Ebahl vor Furcht bleich dastehen, und doch hat sie noch kein Abgrund verschlungen, weil sie voll des festesten Glaubens ist, daß ihr in Meiner Gegenwart nichts geschehen kann. Habt ihr alle den gleichen festen Glauben, und ihr werdet gleich ihr munter sein!«

06] Sagt der Hauptmann, unter dessen rechtem Fuße ein Stein, auf den er eben den rechten Fuß stützte, etwas locker ward: »Da möchte der Adler wohl einen festen Glauben bekommen, den seine Flügel vor dem Sturze sichern; aber ein Mensch wie ich, unter dessen Füßen alle Augenblicke ein Felsstück um das andere locker wird, kann beim besten Willen zu keiner Jarahischen Glaubensfestigkeit gelangen! Ich dürfte auf diesem, kaum zwei Mannslängen breiten und höchstens bei fünfzig Mannslängen langen Hochriffe des Berges nur einen Jarahischen Gemsensprung versuchen, so läge ich auch bald irgendwo klein zerschmettert unten! Oh, wenn ich mich nur schon wieder unten befände!«

07] Hier springt die Jarah auf den Hauptmann zu und sagt: »Aber ich bitte dich, lieber Julius, sei doch nicht gar so furchtsam! Es kann dir ja unmöglich etwas geschehen! Der Herr hat uns über die steilsten Wände heraufgeführt, wir schwebten eigentlich nur neben den Wänden in der Luft herauf; denn es hat solch einen Weg noch nie ein Mensch gemacht, und wem von uns ist etwas geschehen bei der nie erhörten Besteigung dieses nach allen Seiten hin nackten und senkrecht steilen Felsriesen? Sind wir aber über die gefährlichsten Stellen so gut heraufgekommen, wie sollen wir uns denn hier nun auf einmal zu fürchten anfangen, als ob es im Ernste möglich wäre, irgendwo hinabstürzen zu können? Geh, du mein lieber Julius, und sei mir zuliebe ein wenig heiterer! Sieh, ich kann kein so furchtsames und trauriges Gesicht sehen!«

08] Hier will die Kleine den Hauptmann bei der Hand nehmen und ihn ein wenig herumführen; aber der Hauptmann schreit laut auf: »Zurück! Nur immer drei Schritte vom Leibe, du kleine Hexe! Es hätte vorhin nicht viel gefehlt, daß du mit deinem mutwilligen Sprunge mich über die Wände hinabgestoßen hättest! O ich kenne dich, du bist sonst wohl ein selten gutes, liebes und sogar weises Mädchen; aber manchmal kommt dir so ein faunischer Mutwille in den Sinn, und da sage ich: Nur drei Schritte vom Leibe! Ich habe dich sonst sehr lieb; aber hier auf dieser Höhe von wenigstens zweitausend Mannshöhen mußt du mir stets drei Schritte vom Leibe bleiben! Du hast alles richtig und weise gesprochen; aber ich kann für meinen Schwindel auf solchen Höhen nicht. Ich weiß und glaube, daß uns allen nichts geschehen wird; aber alles dessenungeachtet kann ich mich dennoch des lästigen Schwindels nicht erwehren, und du mußt darum mit mir keinen Scherz treiben!«

09] Sagt die Jarah: »Ah, was fällt dir ein? Wie kannst du aber nur zu der leisesten Vermutung kommen, als könnte ich mit dir einen Scherz treiben!? Sieh, ich bin meiner Sache zu gewiß, daß weder mir noch dir hier etwas geschehen kann, und sprang bloß darum so mutig zu dir Furchtsamstem her, um dich möglichst aufzurichten! Wie kannst du mir darum völlig gram werden und mich eine Hexe schelten? Sieh, liebster Julius, das war auch nicht fein von dir!«

10] Hier kommen der Kleinen Tränen in die Augen. - Als der Hauptmann solches bemerkt, da gereut es ihn, daß er die Jarah so hart angefahren hat, und sagt: »Nun, nun, sei nur wieder gut! Unten werden wir beide schon wieder miteinander lustwandeln über schöne Rasenplätze; aber hier ist dazu der Platz ein wenig zu enge, und ich kann, wie gesagt, für meinen lästigen Schwindel nicht!«

11] Sagt die Jarah: »Der Schwindel ist auch eine Krankheit! Der Heiland aller Heilande ist hier; Ihm, dem es möglich war, so viele Hunderte von ihren Übeln zu heilen, wird es wohl auch möglich sein, dich von deinem Schwindel frei zu machen! Bitte Ihn darum, und Er wird dich heilen!«

12] Sagt der Hauptmann: »Schaue du, meine liebe Jarah, das ist dir nun besser gelungen denn alles Frühere! Das war ein besserer Sprung als dein früherer, wo du mich fast über die Wände hinabgestoßen hättest! Und sieh, diesen deinen Rat werde ich auch sogleich befolgen!«

13] Hier wandte sich der Hauptmann bittend an Mich und sagte: »Herr, befreie mich von meiner Furcht und meinem Kopfschwindel!«

14] Sage Ich zu Ebahl: »Gib einen Becher Wein her!«

15] Ebahl reichte Mir sogleich einen kleinen Schlauch voll und einen Becher.

16] Ich füllte den Becher und gab ihn dem Hauptmann mit den Worten: »Da, nimm und trinke, und es wird besser mit deinem Schwindel!«

17] Der Hauptmann nahm sogleich den Becher und trank daraus. Als er den Becher geleert hatte, verließ ihn sogleich alle Furcht und aller Schwindel, so daß er nun ganz heiter ward und sich von der Jarah auf alle Seiten des Berges herumführen ließ und ganz behaglich über die steilsten Wände hinabschauen konnte.

18] Als all die andern solches am Hauptmann merkten, baten sie Mich auch um die Befreiung von ihrer lästigen Furcht. Und Ich ließ allen Wein reichen, und auf einmal ward die Höhe also belebt, als wäre sie ein Volksgarten.

19] Ein Teil betrachtete die weitgedehnten Ländereien, ein zweiter Teil sang sogar Psalmen, ein dritter sah über die Wände hinab und suchte eine Stelle, von der ein Rückweg möglich wäre. Da man aber keine solche Stelle entdecken konnte und die Sonne sich schon sehr dem Untergange zu nahen begann, so kamen besonders die Jünger und sagten: »Herr, noch eine halbe Stunde, und die Sonne ist unter; was dann auf dieser Höhe?«

20] Sage Ich: »Darum habt ihr euch nicht zu kümmern! Wer da glaubt, der soll heute nacht auf dieser Höhe Gottes Herrlichkeit leuchten sehen. Wir bleiben hier!«

21] Als die Jünger solches vernahmen, wurden sie still und suchten sich sichere Ruheplätze aus.

22] Aber der Hauptmann kam auch und fragte Mich, ob wir etwa bald den Rückweg anträten, da die Sonne sich dem Untergange nahe.

23] Ich aber sagte zu ihm ebenfalls, was Ich zu den Jüngern gesagt hatte, und er ward damit auch zufrieden und setzte sich auf einen festen und ziemlich ebenen Fels nieder.

24] Nur die Jarah sagte, als die Sonne eben anfing den Horizont zu berühren: »Herr, Du meine Liebe, wir werden ja etwa doch noch nicht heimkehren von dieser gar so anmutigen Höhe? Ich möchte da gar so gerne den Aufgang der Sonne sehen!«

25] Sage Ich: »Wir bleiben hier die Nacht hindurch und werden uns erst des Morgens am Sabbat heimbegeben; die Nacht hindurch aber wirst du wie alle andern die Herrlichkeit Gottes leuchten sehen!«

26] Darüber ward die Kleine so voll Entzücken, daß sie zu Meinen Füßen niedersank und in eine Art Ohnmacht verfiel, die sie jedoch bald verließ.


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