Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 3, Kapitel 211


Auslegung des vierten Gebotes.

01] Darauf begeben wir uns alle schnell zu den Tischen und verzehren unser Mahl. Unter dem Essen ward diesmal nichts geredet; nach genossenem Weine aber fing es an, in der Gesellschaft recht lebendig zu werden. Neben dem Tische, da Ich saß mit dem Cyrenius, Kornelius, Faustus und Julius, mit Meinen Jüngern, mit Ebahl, Jarah, Kisjonah, Philopold, mit Ouran, Helena, Mathael und dessen Gefährten, mit dem Engel Raphael und dem Knaben Josoe, war ein neuer Tisch hergerichtet für unsere Perser; alle die andern schon bekannten Gäste saßen an den eigens für sie hergerichteten Tischen, je nachdem sie, wie bekannt, gesellschaftlich zusammengehörten.

02] Alle aber wunderten sich über den angenehm warmen Abend nach einem solchen Kardinalsturme: und besonders wunderten sie sich über die gänzliche Trockenheit des Bodens, über dem vor ein paar Stunden noch das Wasser ein paar Schuhe hoch gestanden ist. Ouran fragte Mich, wie es ums Nachtlager für so viele aussehen werde. Was seine Zelte fassten, wolle er gerne aufnehmen; aber da es sich hier um die Unterbringung von mehreren Hunderten handelte, so dürften seine Zelte wohl bei weitem nicht ausreichen!

03] Sagte Ich: ”Freund! Adam und seine ersten Nachkommen hatten weder Zelte noch Hütten oder gut für alles ganz bequem eingerichtete Häuser; der Erde Boden und ein schattiger Baum war ihnen alles, und sie ruhten gut viele Nächte unter dem freien Himmel und waren gesund und stark. Nicht einmal eine Leibesdecke wußten sie sich anzufertigen; ein Feigenlaubkranz zur Bedeckung der Scham war ihre ganze Leibesbekleidung, und alle erreichten ein Alter von mehreren hundert Jahren! Nun aber haben die Menschen alle Lebensbequemlichkeiten erfunden und sich für ein verlorenes irdisches Paradies viele hunderttausende selbst geschaffen, und sieh, jetzt sind hundert Jahre Alters ein Wunder geworden!

04] Sieh, daran schuldet die Verweichlichung der Menschen, die sich dadurch selbst der Natur dieses Weltkörpers entfremden, der in allem die Bestimmung hat, die Menschen zu tragen und zu ernähren, und stark und gesund zu erhalten!

05] Darum sei du, Mein Ouran, ums Nachtlager für diese vielen Gäste ganz unbesorgt; der gute und gesunde Boden wird sie alle ganz wohl beherbergen! Wen einmal der Schlaf übermannt, der ruht auf einem Kissen aus Stein ganz gut aus; geniert ihn der Stein unter dem Haupte, dann ist der Mensch nimmer müde und zu sehr der Ruhe bedürftig, und da kann er sich schon wieder aufrichten und an die Arbeit gehen!

06] Weiche Betten machen die Menschen weich und benehmen ihnen der Glieder nötige Kraft, und ein zu langer Schlaf schwächt die Seele und des Leibes Muskeln. Des Menschen Natur ist wie ein Säugling, den nichts so gut nährt als der Mutter Brust; und jene Kinder, die lange von der Brust der kräftigen Mutter die Nahrung erhielten - vorausgesetzt, dass sie so naturgesund und unverdorben ist wie eine Eva -, werden riesenhaft stark, und der Kampf mit einem Löwen wird sie nicht ermüden.

07] Im gleichen Maße ist auch die Natur dieser Erde eine wahre Mutterbrust für die Menschen, wenn sie sich von ihr nicht entfernen durch allerlei unnötige Verweichlichungen. Haben sich aber einmal die Menschen von dieser großen Mutterbrust entfernt und sich von ihrer stärkenden Einwirkung isoliert, so ergeht es ihnen dann freilich, wenn sie irgend an ihre milchreiche Brust kommen, wie einem erwachsenen Manne, so er von einer Mutter die Milch trinken soll. Es wird ihm eklig zumute bis zum Speien. Was ihn als Kind stärkte und bestens nährte, das wird ihn, als der Mutterbrust lang entwachsenen Mann, krank und magenschwach machen.

08] Nun, der Mensch kann wohl nicht für immer an der Mutterbrust trinken Kraft und Naturleben für seine Muskeln; aber von der Brust der Mutter Erde soll er sich nie zu sehr entfernen, so er dem Leibe nach gesund, stark und alt werden will.

09] Moses sagte: 'Ehre Vater und Mutter, so wirst du lange leben, und es wird dir wohlergehen auf Erden!' Damit bezeichnete Moses nicht nur den Zeugevater und die gebärende Mutter, sondern ebensogut auch die Erde und ihre stets neues Leben gebärende Kraft. Dieser soll der Mensch auch nicht den Rücken zukehren, sondern sie tatsächlich in hohen Ehren halten, und er wird jenen Segen dafür erhalten, den Moses verheißen hat leiblich. Die In-Ehren-Haltung des leiblichen Vaters und der Leibesmutter ist gut und nötig, wo die Verhältnisse danach sind und es auch tunlich ist; aber wenn das, was Moses verhieß, ein Gotteswort ist, so muß es auch gleich dem Sonnenlichte eine allgemeinste und durch nichts unterbrechbare Wirkung haben!

10] Ist aber die Verheißung Mosis nur eine bloß darauf beschränkte, dass nur jene ein langes Leben und Wohlergehen auf Erden zu gewärtigen haben, die ihre Leibeseltern ehren, dann sieht es mit jenen offenbar schlimm aus, die nicht selten dieselben schon in der Wiege verloren haben und dann von ganz fremden Menschen auferzogen worden sind! Wie sollen diese ihre wahren Eltern ehren, die sie nie gekannt haben?!

11] Viele Kinder werden oft gefunden auf Wegen und Straßen; Rabenmütter haben sie in ihrer Geilheit empfangen und bald nach der Geburt irgendwo ausgesetzt. Solche Findlinge werden von irgendeinem gefühlswarmen und barmherzigen Menschen aufgeklaubt und versorgt; diesen Wohltätern sind sie dann auch alle Liebe und Ehre schuldig. Moses spricht nichts von solchen Aftereltern, sondern nur von wirklich wahren Eltern!

12] Nun aber kann der wohlerzogene Findling seine wahren Eltern doch unmöglich ehren, weil er sie fürs erste gut nicht kennt, und kennte er sie auch, so hätte er fürs zweite doch wohl vor Gott und allen Menschen wahrlich keine ehrsame Verpflichtung gegen sie, die ihn in der sündigen Geilheit gezeugt und, als er geboren ward, sogleich dem Tode ausgesetzt haben. Weil aber ein solcher Mensch dann nach Moses seine wirklichen Eltern unmöglich lieben und ehren kann, so hätte er dann keinen Anspruch auf die Verheißung Mosis? Oh, diese Sache wäre dann ja ganz hübsch und nähme sich als weisestes Gotteswort gut entsetzlich gut aus!

13] Weiter gibt es aber auch Eltern, die ihre Kinder zu allem, was nur schlecht genannt werden kann, erziehen. Sie pflanzen ihnen schon in der Wiege einen echt satanischen Hochmut ein und lehren sie gegen jedermann hart und gefühllos sein; solche Tigereltern lehren ihre Kinder schon frühzeitig, keck, lügenhaft und betrügerisch zu sein! Soll Moses wohl auch für solche Kinder, die ihre argen Eltern mit aller Schlechtigkeit und Bosheit ehren, weil solches die Eltern von ihren Kindern wollen, seine gute Verheißung bestimmt haben?

14] Was sind denn Kinder von Dieben, Räubern und Mördern ihren wirklichen Eltern schuldig? Sie können ihre Eltern nur ganz natürlich dadurch ehren, wenn sie im sehr ausgezeichneten Grade das sind und tun, was ihre Eltern auch sind und allzeit tun, also sieh: durch Diebstahl, Raub und Mord an den fremden Reisenden! - Kann sich die Verheißung Mosis wohl auch auf solche Kinder als wirksam erstrecken?

15] Der nur einigermaßen klare Weltverstand muß dir da sagen, dass eine so zu verstehende Verheißung samt dem Gebote Mosis eine Schmach ersten Ranges für alle göttliche Weisheit wäre! Wie kann Gott, der höchst Weise, ein Gebot geben, demzufolge auch ein ins Fleisch eingezeugter Engelsgeist dem Elternpaare, das aus der untersten Hölle ins Fleisch trat, Liebe und alle Ehre schuldig wäre?!

16] Du siehst, dass das Gebot Mosis, von diesem wahren Gesichtspunkte betrachtet, der größte und tollste Unsinn wäre!

17] Es ist also einerseits klar und nun mehr als erwiesen, dass alles, was Moses geredet und bestimmt hat, reines Gotteswort ist und daher ewig keinen Unsinn in sich bergen kann; anderseits aber, wenn man nach der altgewohnten dummen Art das Gesetz Mosis also auslegt und beobachtet, wie es bisher ausgelegt und auch beobachtet wurde, dasselbe vor dem Richterstuhle aller besseren menschlichen Vernunft ein offenbarster Unsinn sein muß!

18] Woran liegt es dann, dass das Gesetz Mosis, wie es bisher beobachtet ward, ein Unsinn trotz des rein göttlichen Ursprunges sein muß? Es liegt solches in dem gewaltigsten Mißverstande dessen, was Moses mit diesem Gebote hauptsächlich angezeigt hatte, das allgemeine Elternpaar der großen Natur Gottes, nämlich die Erde, als der für die Menschengeschlechter geschaffene Weltkörper als Vater, und ihr Schoß, aus dem zahllose Kinder aller Art und Gattung in einem fort ausgeboren werden, als die rechte Mutter! Dieses uralte Elternpaar soll also der Leibesmensch stets ehren und achten, und ihm nie zu verweichlicht den Rücken zeigen, so wird er gesunden Leibes ein langes Leben überkommen und auch ein rechtes Wohlergehen.

19] Von diesem alten Elternpaare kann ein emsiger Mensch auch am meisten alles Gute, Große und Wahre erlernen und sich daraus zuerst jene große Stufenleiter erbauen, auf der der Erzvater Jakob die Engel der Himmel auf- und niederklettern sah. Wer da fleißig und mit großem Ernste in der Natur forscht, der wird vielen Segen für sich und für seine Brüder zum Wohlergehen ans Tageslicht fördern.

20] Darum sei dir, Mein lieber Ouran, nun nur nicht bange, wenn du eine Nacht im Schoße deiner alten Leibesmutter zubringen wirst, - es wird dir darob nichts Arges zustoßen!“



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